Nebelland
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Nebellicht


Evaren ni Naje, Mythenschreiberin

 


"Sorva!" Von allen Seiten schien der Nebel ihren Namen an diejunge Frau heranzutragen. "Sooorrrvaaa!" "Nein", flüsterte sie.Und nochmals: "Nein." Das strenge Gesicht ihrer Mutter tauchteim Nebel auf. Wie zur Abwehr hob Sorva ihr Schwert, und das Bildverwehte. "Nein", hauchte sie ihm hinterher. Lautlos erhob siesich aus ihrer hockenden Stellung und huschte weiter in Richtungder Erdspalte, von der sie wusste, daß sie die Quelle desgelblich-grünen Dunstes war. Schnell blieben die Stimmen hinterihr zurück. Sorva lächelte. Vantarra würde nicht riskieren, imNebel noch mehr ihrer Schülerinnen zu verlieren, und bis sie diebei der Schule stationierten Kämpferinnen alarmiert hatte, würdees bereits zu spät sein. Ein Schwindelanfall ließ sie stolpernund zu Boden stürzen. Die Wirkung des giftigen Nebels begannbereits einzusetzen; sie würde sich beeilen müssen,wenn sie ihrZiel noch rechtzeitig erreichen wollte. In diesem Teil desGrünen Hochlandes hatte Sorva die ersten zwölf Jahre ihresLebens verbracht, und sie kannte das Land wie ihren eigenenKörper. Selbst im Naje Sjerre, dem sinnverwirrenden Erdnebel,fand sie ihren Weg mit schlafwandlerischer Sicherheit. Als sichschließlich vor ihr die dunkle Silhouette eines riesigenabgestorbenen Charri-Busches aus dem Nebel schälte wußte sie,daß sie es geschafft hatte. Ein Summen in ihrem Ohr sagte ihr,daß ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Schon schien ihre Umgebungvor ihren Augen zu verschwimmen, und sie fühlte ihre Händezittern. Einen Moment blieb sie neben dem toten Busch stehen undsaugte die schweflige Luft ein paarmal tief in ihre Lungen .Schwindelgefühl erfasste sie. Nur wenige Schritte vor ihr fielder Boden steil ab. Einen Moment verspürte sie Angst, sie könneabstürzen, bevor sie ihr Ziel erreicht hätte, doch dann schaltsie sich selbst eine Närrin. Was schließlich machte denUnterschied? Nur der Schmerz, und den würde sie am Ende nichtmehr spüren. Vorsichtig hockte sie sich am Felsabsturz niederund ließ sich langsam über die Kante gleiten. Ihre Füße fandenHalt, und sie griff um, ließ sich weiter hinunter, noch einStück...nach etwa zwei Metern stießen ihre Füße ins Leere.Vorsichtig wagte sie einen Blick nach unten. Im dichten Nebelkonnte sie nicht sehr weit sehen, aber sie erkannte denVorsprung einen halben Meter tiefer und wußte, daß sieangekommen war. Sie schloß die Augen, stieß sich mit den Füßenab und ließ schließlich los. Feuchte Luft umfing sie, und schondachte sie, daß der Sturz nicht mehr aufhören würde - da schlugsie hart auf dem Boden auf. Sie ließ sich weiter rollen, bis siegegen ein Hindernis stieß. Einen Moment kämpfte sie gegen dieaufsteigende šbelkeit an, dann setzte sie sich langsam auf. Ja,das hier war ihre Höhle, in die sie als Kind so manches Mal vordem Zorn ihrer Mutter oder ihrer älteren Schwester geflohen war.Manchmal war sie hier bis zu drei Tage geblieben, bis der Hungeroder das Aufkommen des gelben Dunstes sie wieder vertriebenhatten. Der Nebel ließ die Höhle noch gemütlicher erscheinen; ergab ihr einen Hauch von Weichheit und Geborgenheit. Auch fingsich in ihr etwas von der Wärme aus der weiter unterhalbgelegenen Erdspalte, so daß man hier selten fror. Entspanntlehnte sie sich gegen die Felsen. Das Schwindelgefühl wurdewieder stärker und das Atmen mühsamer. Sie schloß die Augen, undsofort tauchte das Bild ihrer Mutter auf. Sorva mußte lachen;ein kurzes, bitteres Lachen, das in krächzenden Husten überging.Wenn sie früher hierhergekommen war hatte sie sich gewünscht,ihre Mutter würde sie mehr beachten und nicht nur auf sieaufmerksam werden, wenn sie etwas angestellt hatte oder jemandsich über sie beklagte. Nun hatte Kjerrta ni Jantha ihrAugenmerk auf sie gerichtet, und wohin hatte es sie gebracht?Eine Weisheit kam ihr in den Sinn; ein Wort, über das sie früherstets gelacht hatte - Bedenke deine Wünsche, sie könnten inErfüllung gehen...

 Langsam glitt sie in einen schlafähnlichen Zustand hinüber, unddas Bild eines Raumes entstand in ihr. Sorva erkannte ihnsofort: Es war das Besuchszimmer der Schule. Noch einmal liefvor ihren Augen die Szene ab, die sich dort vor zwei Tagenabgespielt hatte...

 Nachdem Sorva das Zimmer betreten hatte, standen sich Mutterund Tochter einen Augenblick lang schweigend gegenüber. Unsicherversuchte Sorva, das Gesicht der Frau vor ihr zu erforschen.Kjerta war nicht mehr jung, aber auf ihre Weise immer nochschön. Ehrgeiz und Machtstreben hatten ihre Züge geprägt; ihregrünen Augen wirkten hellwach, wie die einer Katze auf derLauer, und kein Muskel verriet etwas von ihren Gedanken oderGefühlen. Doch irgend etwas in ihrem Blick ließ sie Sorva wieeine Händlerin erscheinen, die abwägte, Werte abschätzte,Gewichte auf die Waage legte... Bevor der Gedanke zu Endegedacht war veränderten sich Blick und Miene unvermittelt undwurden weich. Freundlich lächelte Kjerta ihre Tochter an. "Seigegrüßt", sagte sie mit jener Stimme, von der sich selbst diealte Bewahrerin beeinflussen ließ. "Ich höre, man nennt dichhier Sorva. Soll ich ebenfalls diesen Namen verwenden, oderbevorzugst du deinen Kindheitsnamen?" Sorva zögerte. Wie gernewürde sie ihren früheren Namen einmal in diesem ungewohntsanften Ton von ihrer Mutter hören...und doch ließ etwas siezögern, eine nagende Angst davor, sich verletzbar zu machen. Siebeschloß, sich auf ihr Gefühl zu verlassen. "Nennt mich bitteSorva, Mutter; es ist seit fast sechs Jahren mein Name, und ichbin zur Zeit mehr an ihn gewöhnt als an den, den Ihr mirgeschenkt habt", antwortete sie höflich. Kjerta lächelte. "Wiedu willst, Tochter. Sorva also. Pfeil. Wie kommst du zu diesemNamen?" Sorva war bemüht, ihre Verlegenheit zu verbergen. "Manhat mir gesagt, eine meiner Ausbilderinnen habe den Namenvorgeschlagen weil ich sowohl recht geschickt im Umgang mitPfeil und Bogen wäre als auch mit meinen Antworten im Unterrichtmeist ins Schwarze träfe." Kjerta wirkte amüsiert. "Mir hat mangesagt, es läge unter anderem daran, daß du alle hier mit deinerfreundlichen und frischen Art wie ein Pfeil ins Herz getroffenhättest. Andere wiederum meinten, es läge an deinen häufigäußerst treffenden Bemerkungen und Einwürfen. Offensichtlichbist du recht vielseitig begabt." Sorva fühlte ihre Wangen heißwerden. Warum diese Bemerkung? Niemals vorher hatte sich Kjertadarum gekümmert, wie begabt oder unbegabt ihre jüngere Tochterwar. Sie hatte immer nur die Rügen des Lehrers gehört und niedas Lob, und alle kindlichen Anstrengungen, die Mutter mit einergeschickten Handarbeit oder einem schönen Gesang zu erfreuen,waren übergangen worden. Und jetzt auf einmal sprach sie etwasaus, das einem Lob so nahe kam wie es ihr überhaupt möglich war.Eine Mischung aus Hoffnung und Mißtrauen erfüllte die jungeFrau . "Warum wirst du denn rot?" Kjertas Stimme klang halbbelustigt, halb tadelnd undauch ein wenig weich. "Du brauchstdich doch nicht deiner Fähigkeiten zu schämen. Du solltest stolzauf dich sein, so stolz wie ich es auf dich bin, kleineTochter." Sorvas Gedanken wirbelten. Stolz? War es das, wasKjerta für sie empfand? Oder sollte sie wirklich ihreMutterliebe wiederentdeckt haben? Dieses Gespräch wurde immerverwirrender. "Mutter..." unsicher brach sie ab. "Sorva, ich bingekommen, um alte Fehler wieder gut zu machen. Ich habe mich nierichtig um dich gekümmert, habe dich stets mit all deinen Sorgenund Entscheidungen alleine gelassen. Das war falsch von mir.Aber vielleicht verstehst du mich ja ein wenig besser, wenn ichdir sage, daß es Gründe dafür gab. Meine Stellung alsTalsprecherin und Beraterin war nie leicht; sie hat mich sehrbelastet und mir kaum Zeit für meine Kinder gelassen. Und diewenige Zeit, die ich hatte, mußte ich schon aus Pflichtgefühlder sorgfältigen Vorbereitung Kathras auf ihre Aufgaben alszukünftige Herrin über den Grünwandhof und alle seine Menschenwidmen. Somit blieben wenig Zeit und Nerven für dich übrig,meine jüngere Tochter. Siehst du, was ich meine?" Offensichtlichwartete Kjerta auf eine Antwort, und ihre Augen schienen dieTochter um Verständnis anzuflehen. Sorva zögerte kurz, dannnickte sie stumm. Sie sah das zwar nicht unbedingt alles ein,aber sie war bereit, Vergangenes zu vergessen, wenn sie dafürauch nur ein wenig verspätete Zuneigung von ihrer Muttererhalten würde. Nur einen Moment lang wirkte Kjerta wie einezufriedene Katze, die ihre Maus in der Falle weiß. Etwas inSorva zog sich erschreckt zusammen. Das war nicht die Reaktion,die sie erwartet, geschweige denn erhofft hatte. Was ging nur indieser Frau vor? Was wollte sie wirklich? "Gut", fuhr Kjerta nunfort. "Dann laß uns jetzt die alten Fehler vergessen und lieberan die Zukunft denken. In zwei Monaten ist deine Schulzeitvorbei. Hast du schon einmal ernsthaft darüber nachgedacht, wasdu danach tun willst?" Sorvas Mine erhellte sich. Schon wolltesie ihrer Mutter von dem Angebot erzählen, das ihr Valja niJorra, die beste Goldschmiedin in der Hauptstadt, gemacht hatte;von ihrer Freude daran, etwas nach ihren Wünschen zu formen undzu schmücken; von dem Verlangen ihrer Finger, immer feinereGravuren und Ziselierungen herzustellen. Sie wollte ihr von demsilbernen Armreif mit den Efeuranken erzählen, den sie alsAbschlußarbeit erstellt und den ihr die Schwertmutter selberabgekauft hatte. Sie wußte, sie sollte Kjerta das alleserzählen, doch gleichzeitig war sie sich auf einmal sehr sicher,daß es ihrer Mutter nicht gefallen würde. Wieder begannen ihreGedanken, sich im Kreis zu drehen, und als Sorva den Kopfschüttelte, um ihn zu klären, nahm Kjerta das als Antwort. "Nungut", sagte sie darauf leichthin, "dann laß uns doch zusammeneinmal darüber nachdenken. Ich würde sagen, aufgrund deinerherausragenden Fähigkeiten wäre es Verschwendung, wenn du in dieLandwirtschaft gehen würdest. Als Kämpferin oder Handwerkerinwiederum hätte dein Geist keine wahre Herausforderung, währendzwischen Tintenfaß und Büchern deine Geschicklichkeit und Stärkenicht recht zur Geltung kämen." Sorva war schwindelig. WederLandwirtschaft noch Handwerk noch Kriegertum...was blieb denn danoch? "Aber Mutter", widersprach sie vorsichtig, "wenn ihr es sobetrachtet, gibt es keinen Beruf, der mir gerecht würde. Und mirscheint das Handwerk durchaus hohe Ansprüche sowohl an dieGeschicklichkeit als auch an die Intelligenz der Ausübenden zustellen. Tatsächlich hatte ich erwogen..." "Ach, papperlapapp!Meine Tochter als Handwerkerin! Und deine Kampfkunst? Deineliterarische Bildung? Deine Fähigkeiten im Umgang mit Menschen?Es gibt nur eine mögliche Laufbahn für dich: die einer Wächterindes Labyrinthes!" "Mutter!" Der Raum schien sich um Sorva zudrehen. "Aber..." "Ich meine das ernst, Tochter. Vor zwei Tagenhabe ich für dich die Zulassung zu den Prüfungen erwirkt. Ichweiß, daß du sie bestehen wirst. Du wirst mich nichtenttäuschen, nicht wahr, Sorva?" Entsetzt schnappte Sorva nachLuft. Wie versteinert starrte sie die Frau an, die vorgab, ihreMutter zu sein. Wächterin am Labyrinth! Das war, als wollte siesie in ein vornehmes Kloster schicken, weit weg von allem Lebenund aller Fröhlichkeit, und vor allem weit weg von allen ihrenFreundinnen. Mit einem Schlag stand ihr wieder ihre Kindheit aufdem Grünwandhof vor Augen, als sie keine Freunde hatte außereinem alten Stallburschen und ein paar Katzen. Das sollte siewieder auf sich nehmen, als Werkzeug einer ehrgeizigen Frau, dieihren Einfluß noch mehr vergrößern wollte, als er sowieso schonwar. Eine Tochter am Labyrinth; eine Frau, die die Prüfungenabgelegt hatte, ohne das daraus resultierende Recht auf dasDurchschreiten wahrzunehmen; eine mögliche Thronanwärterin, diedas Labyrinth nicht betreten hatte - das war natürlich einMachtfaktor, auf den Kjerta nicht verzichten konnte und wollte,eine willkommene Möglichkeit, ihre Loyalität zu beweisen undgleichzeitig sanften Druck auf die Bewahrerin auszuüben.

Wie aus weiter Ferne drang die weiche, falsche Stimme ihrerMutter in ihre Gedanken. "Ich tue das alles nur zu deinemBesten, Tochter. Es ist eine große Ehre, am Labyrinthaufgenommen zu werden; nur die Töchter der geachtetsten Familiendürfen dorthin. Glaube mir, es ist das Beste für dich. Und ichweiß, du wirst es schaffen." Der hypnotische Druck derMutterstimme senkte sich auf Sorvas Denken und sie wußte, siewürde tun, was Kjerta von ihr wollte, solange sie beide nochlebten. Es gibt nur einen Ausweg... Sorva bemerkte nicht, daßihre Mutter ging. Noch immer starrte sie ins Nichts, und währendihre Gedanken sich verzweifelt mit dieser einen Möglichkeitbeschäftigten, wurde es dunkel um sie. Dankbar ließ sie sich indie weiche Schwärze gleiten.

 "Sorva!" Eine helle, klare Stimme glitt wie ein Lichtstrahldurch das Dunkel zu ihr heran. Unwillig zog sie sich tiefer indie Schatten zurück. "Sorva!" Es war eine Stimme wie dasStreicheln einer zarten Hand, wie weiche Seide, die liebevollden Körper umstreicht. Sorva glitt weiter in die Tiefe, weg vonder Stimme, die sicher nichts als eine boshafte Täuschung desTraumnebels war. "Jelantha!" Sorva schreckte hoch. Das war ihrKindheitsname, den zu vergessen sie beschlossen hatte - daseinzige Geschenk, das sie je von ihrer Mutter erhalten hatte.Ferne Erinnerungen an Zeiten unbeschwerter Unabhängigkeit regtensich in ihr. "Jelantha, komm zurück! Komm zurück, mein Mädchen!"Sorva - Jelantha - zögerte, klammerte sich an der samtigenSchwärze fest, die ihr sanft zu entgleiten drohte. Dochschließlich verlor sie das gewaltlose Ringen, und mit einemgeistigen Seufzer ließ sie sich zurück an die Oberflächetreiben. Sie spürte eine warme Hand auf ihrer Stirn und eine aufihrer Brust, direkt über ihrem Herzen. Etwas hartes drückteschmerzhaft gegen ihren Rücken und ließ sie vermuten, daß sienoch immer in ihrer Höhle war. šbelkeit stieg in ihr auf, undsie übergab sich hustend. Die sanften Hände stützten sie dabeiund drückten sie hinterher wieder zurück auf den Boden. Dankbarsah die junge Frau auf. šber sich gebeugt sah sie unscharf dieGestalt einer ganz in Weiß gehüllten Frau. Ihr Gewand wirkte,als sei es aus einem Stück Nebel gewoben, und ihr Gesicht schiendas einer Frau in mittleren Jahren zu sein, doch lag dieWeisheit von Jahrhunderten in ihren Augen. Im ersten Momentschien es Jelantha dem Gesicht ihrer Mutter zu ähneln, dann demder Schwertmutter ihrer Schule, dann wiederum war es das derBewahrerin oder das Valja ni Jorras. Jelantha setzte sich aufund starrte ihr Gegenüber an. Langsam gewann die Gestalt anKlarheit. Es war eine schlanke Frau in einem langen, weißenGewand, das an die Zeremonienkleider einer Kandy-Priesterinerinnerte, nur fehlte das Schwert an ihrer Seite. Sie musterteJelantha mit besorgtem Blick, und die junge Frau sah Wärme undZuneigung in ihren Augen. Sie ertappte sich bei dem Wunsch, ihreMutter hätte sie einmal so angesehen. Jelantha überlegte, ob sienun tatsächlich tot war und dies eine Erscheinung, die sie insSchattenreich geleiten sollte. Aber für eine Tote fühlte siesich eigentlich zu elend, und auch der harte Druck auf ihrenRücken fühlte sich eigentlich sehr weltlich an. Also kam sie zudem Schluß, daß sie noch lebte. Aber warum? "Warum?" stieß siekrächzend hervor. "Warum lebe ich noch?" Das Sprechen tat weh,und auf ihrer Zunge lag immer noch der bittere Geschmack vonErbrochenem. Als hätte sie ihre Gedanken gelesen reichte ihr dieFrau einen vollen Wasserbeutel und forderte sie mit einer Gesteauf, zu trinken. Dankbar nahm Jelantha ihn entgegen, spülte sichzunächst sorgfältig den Mund aus und begann dann, langsam zutrinken. Als ihr erster Durst gestillt war setzte sie den Beutelab und wiederholte ihre Frage. "Warum?" Die Frau lächelte."Einer der Gründe ist der, daß du nicht wirklich sterbenwolltest. Hättest du es wirklich gewollt und es nicht nur alsdas geringere šbel angesehen, hätte selbst ich nicht die Machtgehabt, dich zurückzuholen." Einen Moment starrte Jelantha siean, dann glitt ihr Blick an ihr vorbei zum Höhleneingang. Nochimmer versperrte der Nebel den Blick nach draußen, doch drang erscheinbar nicht mehr in die Höhle ein. Die Luft roch feucht underdig, keine Spur von Schwefelgestank war mehr darin zu spüren.In der jungen Frau regte sich Ehrfurcht vor dieser Macht.Schließlich wandte sie sich wieder der weißen Frau zu. "Wer seidIhr?" fragte sie staunend. Die Frau lachte leise. "Hat dein Herzmich nicht längst erkannt, Jelantha? Was sagt es dir?" Jelanthazögerte. "Ich weiß nicht...ich fühle für Euch, wie ich für meineMutter fühlen sollte; aber ihr seid nicht meine Mutter." Wiederlachte sie ihr warmes Lachen. "Halb richtig und halb falsch,Tochter. Ich bin diejenige, der du dein Schwert verschworenhast." "Aber ich habe mein Schwert Kandy geweiht!"Verschwörerisch lächelnd legte die Frau einen Finger aufJelanthas Lippen und schüttelte den Kopf. "Mit deinen Lippenhast du `Kandy' gesagt, weil man es so von dir erwartete und dukeinen anderen Namen für das hattest, was in dir war. Aber nichtdie Lippen zählen, sondern das Herz. Und so, wie es Frauen gibt,die Anur oder Grewia auf ihren Lippen haben und Marlillith inihren Herzen, so gibt es eben andere, die Kandy oder Paranaanrufen und doch meine Töchter sind." Verwirrt blickte Jelanthasie an. "Bist du Dena?" Die Frau wandte ihren Blick ab. "Warumbrauchst du einen Namen? Genügt dir nicht, was du empfindest?""Ja, schon, aber...wie soll ich dich den anreden? Wie sollst duwissen, wann ich zu dir rede? Sie sah Jelantha wieder an, undeine Spur von Traurigkeit lag in ihren Augen. "Ich versprechedir, ich werde wissen, wann du mit mir redest. Aber wenn es dichso nach einem Namen verlangt, dann nenne mich die Nebelfrau, wiedie Bergbewohnerinnen es tun. Oder nenne mich Mutter, oderSchwester, oder Geliebte. Nenne mich so, wie du für michfühlst." Beschämt wegen ihrer Zudringlichkeit senkte Jelanthaden Kopf. "Es tut mir leid", sagte sie leise. Die weiße Fraustrich ihr sanft über das Haar und hob mit einem Finger ihrKinn. "Es tut mir leid, Jelantha", sagte sie weich. "Ich habeetwas von dir verlangt, das kaum ein Mensch auf Myrafertigbringt, nämlich deine Sehnsüchte und Gefühle ohne Namen zulassen. Ich hatte gehofft, du seist auch in dieserBeziehung...anders als die meisten Menschen. Aber du bist nochjung, und vielleicht wirst du es ja einmal lernen, mit demHerzen mit mir zu reden und nicht wohlgeschliffene Wortezwischen uns zu schieben. Ja, ich glaube, du wirst es lernen."Einen Moment saßen die beiden Frauen stumm nebeneinander. Dannsprach Jelantha aus, was sie schon die ganze Zeit bewegte: "Undwarum hast du mich zurückgeholt?" Die Frau seufzte leise. "Indieser Hinsicht bin ich nicht viel anders als deine leiblicheMutter, Jelantha. Ich habe dich am Sterben gehindert, weil ichdich brauche. Die Bewahrerin ist alt und senil geworden, undunter ihrer Herschaft verfällt das Land. Dennoch läßt sie esnicht zu, daß irgendeine aussichtsreiche Bewerberin dasLabyrinth betritt. Willenlos läßt sie sich von ihren ehrgeizigenBeraterinnen führen und ist nur noch daran interessiert, wie siedie Kupferkrone halten kann. Aber es war und ist das Labyrinth,das über die Regierungszeit der Herrscherinnen Am'y Syrrensentscheidet!" Jelantha nickte. An der Schule wurde wenig überPolitik gesprochen, aber Gerüchte über den geistigen Zustand derBewahrerin waren auch bis dorthin gedrungen, und sie wußte auchrecht gut, wieviel Einfluß allein Kjerta bereits über diewankelmütige Herrscherin hatte - und Jelantha bezweifelte, daßdie Vorschläge ihrer Mutter stets nur dem Wohl des Landesdienten. Eine dumpfe Ahnung stieg in ihr auf. "Meine Muttermöchte, daß ich Wächterin am Labyrinth werde", bemerkte sieleise. Die Nebelfrau nickte. "Ich weiß. Und wie du wohl schonvermutet hast ist das auch der Grund, weshalb ich mich an dichwende. Das Land verlangt nach einer neuen Bewahrerin. Doch dieeinzige Möglichkeit, eine Zulassung zum Labyrinth zu erlangen,ist zur Zeit die, von vorneherein auf dessen Betreten zuverzichten. Nur eine Labyrinthwächterin kommt im Moment so weit,und du hast trotz deiner Jugend alle Voraussetzungen, die dubenötigst, um den Weg durch das Labyrinth der Macht klarenGeistes zu überleben." Jelantha stockte der Atem. "Ich sollBewahrerin werden?" stieß sie mühsam hervor. Die weiße Fraunickte ernst. "Aber...aber ich wollte ein Handwerk erlernen,Goldschmiedin werden! Ich hasse Politik! Man macht sich nur dieHände dabei schmutzig, und wer Betrug und Intrige nichtbeherrscht, kann sich nicht lange behaupten. Und ich beherrschesie nicht! Ich kann noch nicht einmal lügen, ohne rot zu werden!Ich bin doch nur ein einfaches Mädchen..." "Bist du nicht",unterbrach die Nebelfrau ruhig. "Du bist immer noch Kjerta niJanthas Tochter, und du hast all ihre Intelligenz und ihrDurchsetzungsvermögen geerbt. Sie hat es zum Schlechtenverwendet; was du damit tun wirst, liegt ganz bei dir. Außerdemhast du als Bewahrerin gegenüber den anderen den Vorteil, daßniemand dich absetzen kann außer dem Labyrinth, und solange dufür das Land nur das Beste tust, wird das nicht geschehen.Glaube mir, du bringst alles mit, was eine gute Bewahrerinbraucht; du mußt es nur richtig zu nutzen wissen - und dir dierichtigen Beraterinnen suchen." Eine Weile war Jelanthasprachlos. Die Intelligenz ihrer Mutter? IhrDurchsetzungsvermögen? Da sah sie den Haken. "Aber wie soll ichdie Labyrinthwächterinnen täuschen, wenn sie mich aufnehmen? Ichsagte doch schon, daß ich nicht lügen kann!" "Du wirst nichtlügen müssen. Ich werde dafür sorgen, daß du alles, was heutehier geschehen ist, vergißt.Du wirst dann von selber tun, wasrichtig ist, aber du wirst glauben, andere Gründe dafür zuhaben. Aber ich brauche dazu deine Einwilligung." "MeineEinwilligung? Wozu?" "Dein Geist ist zu stark, als daß ich dichgegen deinen Willen lenken könnte, ohne dir Schaden zuzufügen.Wäre er schwächer, wärst du aber auch nicht geeignet, und wenndu es nicht aus freiem Willen tust, wärst du auch keine guteHerrscherin. Ganz davon abgesehen ist es auch nicht meine Art,einen Menschen gegen seinen Willen zu beeinflußen." Verwirrt undhilflos schloß Jelantha die Augen. Ihre Gedanken wanderten zurBewahrerin, dann zum Labyrinth der Macht. Sie sah die Schule undihre Freundinnen darin, die belebten Straßen Kerasywens und daseinsame Hochland. Und plötzlich legte sich das graue Bild ihrerMutter über all das. "Was wird geschehen, wenn ich ablehne?""Ich weiß es nicht. Du wirst auf jeden Fall tun können, was dirbeliebt - Sterben oder in die Schule zurückkehren oder was immerdu bevorzugst. Das Land - nun, im günstigsten Fall wird sichschnell eine andere Frau finden. Wenn nicht, wird das Landvielleicht jahrelang weiter verfallen, und im ungünstigsten Fallwerden die Beraterinnen erreichen, daß die Wahl des Labyrinthesihre Bedeutung verliert und es in Vergessenheit gerät." Jelanthaöffnete die Augen und sah die weiße Frau lange an. Ihr war, alskönnte sie durch deren uralte Augen das ganze Land betrachten,und sie stellte sich vor, wie es langsam verfiel, von Kriegzerrissen und fremden Männern erobert... "Ich werde esversuchen", sagte sie schließlich leise. "Aber verurteilt michnicht, wenn ich es nicht schaffe oder wenn ich den Verlockungender Macht ebenso verfalle wie meine Mutter. Ich weiß nicht, obich wirklich so viel Stärke in mir habe, wie Ihr zu vermutenscheint." "Du hast sie, und ich weiß, daß du es schaffen wirst,denn du bist meine geliebte Tochter."

 Plötzlich fühlte sich Jelantha unendlich müde. Sie hörte, daßdie Nebelfrau noch irgend etwas sagte, doch ihre Stimme klangweit entfernt, und ihre Worte vermischten sich auf seltsameWeise miteinander. Dann hörte sie einen leisen, wunderbarenGesang, und träge ließ sie sich von ihm in eine ferne Traumweltleiten...

 "Sorva! Sooorrrvaaa!" "Hier ist sie! Kommt her, ich habe siegefunden!" Sorva hörte aufgeregte Stimmen und spürte, wie sievorsichtig hochgehoben wurde. "Sie ist bewußtlos. Wahrscheinlichzu lange im Nebel gewesen. Ansonsten scheint sie aber in Ordnungzu sein. "Gut. Am besten nehme ich sie mit zu mir hoch." Irgendjemand hievte sie quer über den Rücken eines Pferdes. Kurzdarauf begann es zu laufen. Sorva spürte jeden Schritt wie einenSchlag in die Magengrube, und es wurde erst besser, als sie sichübergab. Unter Flüchen und Gelächter ihrer Kameradinnen ließ siesich wieder zurück in den Schlaf gleiten. Als sie schließlicherwachte, lag sie in ihrem Bett in der Schule. DieKrankenpflegerin saß auf der Bettkante und sah ihr gleichzeitigbesorgt und erleichtert ins Gesicht. "Hast du es also wieder indie Welt zurück geschafft. Deine Freundinnen hatten es jaanscheinend darauf angelegt, dich noch auf dem Rückweg insSchattenreich zu befördern. Syrrtanje ist übrigens ziemlichsauer; du hast ihr Pferd vollgekotzt, gar nich zu reden vonihrem rechten Stiefel. Ich halte das allerdings für genau dierichtige Strafe für ihre Art, dich zu transportieren." SorvasVersuch, zu lachen, ging in einem kratzenden Husten unter. DiePflegerin half ihr, sich aufzusetzen, und reichte ihr einenBecher heißen Kräutertee. Schweigend beobachtete sie dieSchülerin beim Trinken. Schließlich fragte sie leise: "Sag mal ,Sorva, was hat dich eigentlich überhaupt dazu getrieben, so tiefin den Nebel zu gehen? Du weißt doch, wie gefährlich das ist!"Nachdenklich runzelte Sorva die Stirn. "Ich weiß nicht mehr sorecht...da war etwas im Nebel...eine Art Licht..."

 Silaran Tegare Silaraj - Dichten ist das Recht des Dichters

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