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Über die Erziehung junger Mädchen
Du fragst, lieber Bruder, was von dem Mädchen, das einst unser Herzogtum regieren wird, zu halten ist, wodurch sie geprägt ist, wer in ihrer Jugend Einfluß auf sie geübt hat. Nun, Du weißt, daß
fast alle Eltern aus ehrenwerten Familien das Problem teilen, daß ihre Pflichten so vielfältig sind, daß sie sich kaum um die Erziehung und Bildung ihrer Sprößlinge kümmern können. So werden
Säuglinge gewöhnlich von Ammen versorgt, und auch später wird ihre Ausbildung in die Hand Fremder gegeben. Umso mehr gilt dies für die Erben der Familie D'Aleph! Bei Phirestas und Andreana traf
dies umso mehr zu, wurden doch die Kinder des hochehrenwerten Deirvis inmitten des Bürgerkrieges geboren. Ihr Vater war demnach bis 412 n.P. fast nie in Allennos, und wenn er zugegen war, hatte
er meist dringende Geschäfte zu erledigen. Auch Rohanya D'Laphur hatte ungewöhnlich wenig Zeit für ihre Kinder, mußte sie doch nicht nur die normalen Pflichten einer Herzogin erfüllen, sondern
auch noch viele Aufgaben ihres Mannes erledigen. Umso ersunlicher ist es, welch ungewöhnlich innige Beziehung die Kinder zueinander und zu ihren Eltern entwickelten. Einerseits zeugt dies von der
Liebe, die Deirvis und Rohanya ihren Kindern entgegenbrachten, und von der kostbar erkämpften Zeit, die sie wohl doch ihren Kindern widmeten, andererseits ist dies jedoch ein Zeichen der
Fähigkeit der Erzieher der Kinder, die es schafften, in den Kindern jene tiefe Ehrfurcht gegenüber den Eltern zu erzeugen, die sich zwar eigentlich ziemt, die jedoch so selten zu finden ist.
Insbesondere ist dies wohl ein Verdienst des hochehrenwerten Delphes Arqnell.
Nun, Du weißt, daß, sobald die Kinder ehrenwerter Familien alt genug für die Ausbildung sind, werden Knaben als Pagen in die Obhut eines Amtsherren gegeben, wenn sie Ritter werden oder eine
Karriere in der Verwaltung einnehmen sollen. Die wenigen, die für die Götter bestimmt sind, werden den entsprechenden Priestern zur Ausbildung übergeben. Die Ausbildung von Knaben ist in fast
allen ehrenwerten Familien gleich, und sie verlief auch für den jungen Phirestas mustergültig: Im Alter von fünf Jahren wurde er in die Obhut des ehrenwerten Amtsherren von Indogas übergeben.
Dieser machte den Burschen zu einem ehrenhaften, mutigen und umsichtigen Jüngling, und hätte sich nicht dieser tragische Unfall ereignet, wäre er heute ein Mann, der allseitige Bewunderung
erntete.
Schwieriger ist die Lage jedoch bei Mädchen. Wie Du weißt, bestehen die Schwestern der Rhyalianda darauf, daß jedes Mädchen zumindest Lesen und Schreiben lerne und über die Gesetze der Götter
Bescheid wisse. Dies wird den Töchtern ehrenwerter Familien - wie auch den Söhnen - von den Schwestern schon in sehr frühem Alter beigebracht. Doch damit endet auch schon meist die Erziehung der
Mädchen. Leider herrscht in den meisten ehrenwerten Familien noch die arge Unsitte vor, den Mädchen jegliche weitere sittliche Erziehung und Bildung vorzuenthalten und sie stattdessen in die
Obhut einer ehrenwerten Dame zu geben, die diese dann in die weiblichen Künste einweisen. Am ärgsten war dies der Fall im Geschlecht der D'Arybion, und es hat sich bitter gerächt - Du erinnerst
Dich gewiß noch an das jämmerliche Schicksal, die die arme Myfanwy erlitt. Als der letzte ihrer Brüder am Fieber erkrankt und gestorben war und ihr Vater noch fern in der Schlacht weilte, mußte
sie im unerfahrenen Alter von 13 Jahren den Bezirk in seir Vertretung leiten. Da sie bis dahin ihr Leben im Frauensaal verbracht hatte und ihr auch keinerlei Hilfe bereitstand, war sie so
überfordert, daß die gesamte Wirtschaft des Bezirkes innerhalb weniger Monate zusammenbrach und im Winter die Bauern zu rebellieren begannen. Ihr soll das schändlichste aller Verbrechen, das sie
begangen hat, indem sie ihr Leben selbst auslöschte und so auf immer dem Licht entzog, nicht verziehen werden. Wohl ist jedoch zu sagen, daß ihr Vater dies mitverschuldet hat, hat er doch seiner
Tochter eine Ausbildung verweigert, die es ihr ermöglicht hätte, die Pflichten ihres Standes zu erfüllen.
Erinnerst Du Dich, welche Erschütterung damals durch Allennos und insbesondere die ehrenwerten Familien ging? Unsere Familie verwunderte das Ergebnis dieser verhängnisvollen Haltung gegenüber der
Bildung von Mädchen nicht so sehr, wird doch bei uns schon seit jeher auf die Ausbildung von Töchtern ebensolchen Wert gelegt wie auf die von Söhnen. Wohl ist diese zwischen Knaben und Mädchen
unterschiedlich, doch wissen wir seit langem, daß die Aufgaben, die ehrenwerte Damen zu erfüllen haben, ebenso wichtig sind wie die ihrer Männer. Niemand will, daß eine Dame wie ihr Herr die
Waffen ergreift, doch muß sie doch genug um die Verwaltung eines Gutes wissen, daß sie ihn vertreten kann.
Auch die Familie D'Laphur verwunderte dies wenig, herrscht doch in dieser alten Familie immer noch die barbarische Sitte, in der Ausbildung von Söhnen und Töchtern kaum einen Unterschied zu
machen, so daß auch die Mädchen lernen, mit dem Bogen umzugehen. Man stelle sich das vor, welche Mannsweiber dies erzeugen kann! Erstaunlich ist nur, wie gepflegt trotz allem die Sitten Rohanya
D'Laphurs sind. Doch die Familien Teristos und D'Orboron veränderten ihr Verhalten gegenüber ihren Töchtern drastisch. Weißt Du noch, wie der Amtsherr von Saratinar zu uns kam und uns um einen
fähigen Erzieher für seine Tochter bat? Seltsam ist nur, daß die Familie Sotis überhaupt keine Reaktion zeigte. Umso verwunderlicher ist dies, da doch diese Familie neben der Herzogsfamilie den
größten Wert auf die Ausbildung ihrer Söhne legt. Die Folgen dieses Handelns sieht man an der Entwicklung Deirya D'Alephs - nichts als Flausen hat dieses Mädchen im Kopf. Glücklicherweise verhält
sich dies bei den anderen Töchtern Ouardo Sotis' anders,ögen diese doch möglicherweise eine große Rolle für die Zukunft Allennos' spielen. Doch täusche Dich nicht - dies ist nicht Ouardo Sotis'
Verdienst, sondern der ihrer Mutter, die eine geborene D'Aleph ist und in ihren späteren Jahren immer mehr durchsetzte, daß ihre Töchter gemäß der Sitten der Herzogsfamilie erzogen werden.
Nun, ich weiß nicht, wie weit Du mit diesen Sitten vertraut bist. Zunächst und am auffälligsten ist, daß die formale Ausbildung der Sprößlinge der Herzogsfamilie nicht, wie sonst üblich, in den
Händen der Schwestern der Rhylianda liegt, sondern Aufgabe des Leitenden Bibliothekars der Festung Allennos ist, welcher gleichzeitig der Höchste Priester des Pollathan in Allennos ist. Ihm
werden die Kinder von ihrem fünften Lebensjahr an jeden Morgen für mehrere Stunden übergeben, und ihm obliegt nicht nur die Aufgabe, die Kinder im Lesen und Schreiben zu unterrichten, sondern
auch, sie alles in Recht, Verwaltung, Geographie, Geschichte und Sprachen zu lehren, was für die Führung eines Landes vonnöten ist. So könnte man denken, die Sprößlinge der Familie D'Aleph seien
am meisten von diesem Mann geprägt worden, und er ist auch wahrhaft ein Vorbild. Halphur Paradax ist die Ruhe, Gelassenheit und Emsigkeit in Person. An Sauberkeit und Pünktlichkeit steht er
niemandem nach. Sein großes Wissen ist weit bekannt, und sein eundliches Wesen machen den Umgang mit ihm einfach. Der Einfluß, den er auf Kafrya, Larrissa und Halys gehabt hat, ist nicht zu
verkennen, doch bei Andreana ist die Lage schwieriger.
Wohl ist sie stark von Halphur Paradax geprägt worden, doch eine weitaus größere Bedeutung in der Bildung ihres Charakters hatte der hochverehrte Hohepriester des Erainn, Delphes Argnell,
dem Andreana im Alter von fünf Jahren übergeben wurde. In seiner Obhut verbrachte sie fast den gesamten restliche Tag, und er lehrte sie die Götter zu ehren und ihre Gesetze über alles zu achten.
Kaum einen Nichtgeweihten am Hofe gibt es, der das Licht so tief und innig verehrt wie Andreana. Schon in ihrem Tagesablauf ist dies zu sehen. So erhebt sie sich jeden Morgen eine Stunde vor dem
Morgengrauen, um den Beginn des Tages im Schrein des Erainn zu feiern, und so oft sie kann, besucht sie den Erainn-Tempel, um den Gott zu ehren und ihre Eltern und ihren Erzieher zu besuchen. Die
wichtigsten Feste des Jahres sind ihr die Erainns. Doch auch für die anderen Götter tiefe Verehrung zu empfinden, hat sie der weise Delphes Argnell gelehrt. Sie ist eine der wenigen Personen am
Hofe, die bisweilen den Tempel Mannannans aufsuchen. Sist nur zu erwarten, daß sie sich bemühen wird, ihr Leben im Zeichen des Lichts zu bestreiten. Auch die strenge Disziplin, der sie sich
unterwirft, ist wohl auf Delphes Argnells Einfluß zurückzuführen, wie auch sonst ein Großteil ihres Wesens durch ihn geprägt wurde. Welchen Einfluß ihre Zofen auf sie haben, ist schwer zu
ergründen. Andreana wurde diesen - wie üblich - übergeben, als sie zur Frau wurde und kein Mann sich ihr mehr ohne das Beisein der Zofen nähern durfte, um ihre Jungfräulichkeit zu bewahren. Die
geschah etwa zurselben Zeit, als Delphes Argnell zum Hohepriester geweiht wurde. In dieser Zeit begann auch der Nhrîàs, sie im Gebrauch von Waffen zu unterrichten. Auch viele andere Leute - unter
anderem ich - wiesen sie in die Pflichten eines Herzogs ein. Fest steht jedoch, daß sie nach wie vor auf den Rat des weisen Delphes Argnell hört, wie auch auf den jedes anderen Priesters. Dies
ist besonders im Rat des Herzogs spürbar. Welche Einflüsse das Mädchen sonst noch geprägt haben, wird wohl die Zukun zeigen.
Aus den Briefen Kareynia Kurilons an Japhur Kurilon Festung Allennos, 13. Elul 417 n.P.
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