MYRA

 Ereignisse_nach_der_Kaiserwahl

Ereignisse nach der Kaiserwahl

Festung Allennos, Marschäschwan 419 n. P.

 Nachdem die Fürsten endlich einstimmig einen Kaiser gewählt haben und Rhyaliss ihnen gestattet hat, den Saal zu verlassen, wartet der Herzog zu Allennos, bis der erwählte Kaiser sich erhebt. Dann erst beginnt auch er, sich zu erheben. Seine Tochter will ihm zu Hilfe eilen, um ihn zu stützen, aber er schüttelt den Kopf. Mühsam stemmt er sich aus dem Sessel, die Anstrengung der zähen und langwierigen Verhandlungen zeichnen sein Gesicht. Doch dann steht er, reckt sich und schafft es, sich mit der Würde eines Herzogs zusammen mit seiner Tochter sich vor dem Kaiser zu verneigen. Neben seiner Tochter verläßt er aufrecht den Ratssaal.

 Kein Zeichen des Schmerzes ist der Haltung und dem Gesichtsausdruck des Herzogs zu Allennos zu entnehmen, als er aus dem Ratssaal vor den allennosischen Hof und die versammelte Ritterschaft Tektolois tritt.

 

 Als verkündet wird, wer zum Kaiser erwählt wurde, sinkt der gesamte allennosische Hof einschließlich den Getreuen 25, vor diesem nieder, auch wenn – gemäß der Etikette – diese Ehrerbietung erst nach der Krönung nötig wäre.

Nachdem verkündet wurde, wer der neue erwählte Kaiser Tektolois ist, und sich die Fürsten zur Abreise nach Mitrania bereitmachen, zieht er mit einer Einhalt gebietenden Geste die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich. “Halt! Einen Augenblick noch“, sagt der Herzog zu Allennos, und seine Stimme ist so laut und klar, wie seit dem Beginn seiner Krankheit nicht mehr. Er wartet, bis die Augen sämtlicher Anwesenden auf ihm ruhen. Erst dann fährt er fort. Ohne, daß es besonders leise in der Großen Halle wäre, durchdringt seine Stimme den ganzen Saal. In diesem Augenblick erinnert nichts mehr an den gebrechlichen, kranken Mann, der, vor Schmerz unfähig, sein Herzogtum zu regieren, seit Jahren seine Würde nur noch bewahren konnte, indem er sich vor den Menschen zurückzog. In diesem Augenblick ist Deirvis D'Aleph noch einmal der Mann, der er einst war. Der Stolz und die Pflicht scheinen ihn zu tragen. „Ich werde nicht mit nach Mitrania reisen“, erklärt er ruhig, „zur Krönung des Kaisers reicht es aus, daß die Mehrheit der Fürsten Tektolois anwesend ist, und ich würde die Reisenden nur aufhalten. Stattdessen“, er hält kurz inne, während die Spannung steigt, was er noch zu sagen hat, „verkünde ich hiermit, daß ich auf meinen Titel, Rechte und Pflichten als Herzog zu Allennos zugunsten meiner Tochter und rechtmäßigen Erbin, Andreana D'Aleph, verzichte. In dem Augenblick, in dem der gekrönte Kaiser Tektolois sie zum Herzog zu Allennos geschlagen hat, höre ich auf, Herzog zu Allennos zu sein. Nicht nur ich sondern auch die gesamte allennosische Ritterschaft kann bezeugen, daß meine Tochter alle Voraussetzungen hierzu hat. Nicht nur hat sie in den vergangenen fünf Jahren bewiesen, daß sie Allennos regieren kann, sie hat auch die volle Ausbildung eines tektolonischen Ritters genossen und diese bereits vor drei Jahren abgeschlossen. Ich bitte darum Euch, erhabene Majestät ...“, er verneigt sich vor dem erwählten Kaiser, „... Euch, meine Mitfürsten ...“, er blickt die anderen Fürsten Tektolois an, „... im Geleit der Teligat bereits gen Mitrania vorauszuziehen. Meine Tochter wird Euch in drei Tagen folgen, denn dies ist der Zeitraum, den der allennosische Teil der Zeremonie, die traditioneller Bestandteil der Krönung eines Herzogs zu Allennos ist, in Anspruch nimmt.“

 Dann verneigt sich Deirvis D'Aleph ein letztes Mal vor dem erwählten Kaiser und verabschiedet dann die Fürsten mit den Worten: „Geht nun in Frieden. Die Götter seien mit Euch.“

 

 Unbemerkt von der Menge haben Delphes Argnell, der Hohepriester von Or'panoij und Erzieher der Hohen Regentin, der eigens zu diesem Anlaß angereist ist, und Lara Omkros, die Zweite Schwester der Rhyalianda zu Allennos, während Deirvis D'Alephs Rede Andreana D'Aleph in ihre Obhut genommen und sie in den Erainn-Tempel der Stadt geführt. Während der erwählte Kaiser und die Fürsten im Geleit der Teligat abreisen und die allennosische Bevölkerung in den nächsten drei Tagen eifrig die Krönungsfeierlichkeiten vorbereitet, wird die Hohe Regentin nicht mehr gesehen.

 

Drei Nächte und drei Tage später herrscht großer Trubel in Allennos. Die Häuser der Stadt sind blumengeschmückt. Aus allen Fenstern hängen Banner des Herzogtums Allennos. Überall flattern Fahnen. Die Bürger der Stadt haben ihre Festtagsgewänder angelegt, und überall wird schon mal im voraus kräftig geschmaust und getrunken. Es gibt ja allen Grund zum Feiern, jetzt, nachdem die Kaiserwahl endlich abgeschlossen ist! Der absolute Renner ist übrigens im Augenblick ein seltsames Gebräu namens „Køstalischer Met“. Aus unerfindlichen Gründen war in den letzten Monden die Nachfrage schlagartig angestiegen, so daß er inzwischen knapp zu werden beginnt. Den wenigen Wirten, die noch einen Vorrat haben, rennen die Leute die Türen ein. Schon fragen einheimische Händler bei Durchreisenden herum, wo man dieses neue wundersame Getränk her bekommen könne.

Niemand weiß, was in jenen drei Tagen geschieht, in denen die beiden Priester den künftigen Herzog auf sein neues Leben vorbereiten. Man sagt, sein Geist werde erforscht, ob er den Rechten und Pflichten des Amtes gewachsen sei, und sein Herz werde geprüft, ob es wahrhaft bei den Göttern liege.

 Auch wenn dies wohl immer ein Geheimnis bleiben wird ähnlich dem, was bei der Weihe eines Kindes geschieht, so ist doch nicht die Veränderung zu verkennen, die Andreana D‘Aleph in sich trägt, als sie den Erainn-Tempel verläßt und – geführt von dem Erainn-Priester und der Schwester der Rhyalianda und geleitet von der gesamten allennosischen Ritterschaft, die sie am Eingang des Tempels erwartet hat – unter dem Jubel der Menge durch die Stadt zur Burg in die große Halle schreitet. Der gequälte Ausdruck, der ihr Gesicht direkt nach der Kaiserwahl zeichnete, als ob eine unsägliche Last auf ihrer Seele liege, ist verschwunden. Stattdessen liegt ein verklärter Schimmer auf ihrem Antlitz. Ihr Gang ist aufrechter und anmutiger denn je, und an ihrem ganzen Benehmen ist zu erkennen, wer sie ist. Nie sah sie mehr aus wie ein Mann als an diesem Tage. Als sie, in die leuchtenden Festtagsgewänder eines allennosischen Ritters gehüllt, in die Menge blickt, fühlen sich die, die sich daran erinnern können, zurückversetzt in das friedliche Jahr 370, in das hoffnungsvolle Jahr 383, in das glorreiche Jahr 391, und in die blutigen Jahre 392, 399 und 401 und in das verzweifelte Jahr 408 – kurz, in all jene Jahre, in denen ein junger Mann aus dem Geschlecht der D'Aleph mit eben jenem Gesichtsausdruck und eben jener Haltung vom Erainn-Tempel in die Große Halle schritt. Nie waren in Andreana D'Alephs Gesicht deutlicher die Züge ihrer Ahnen zu sehen als am heutigen Tag.

 

Die Große Halle ist voll. Kein Edler aus Allennos will es versäumen, Andreana D'Aleph an diesem Tag die Ehre zu geben. Ausgewählte Mitglieder der Stadtwache stehen in ihren glänzenden Rüstungen Spalier. Als die Hohe Regentin mit ihrer Gefolgschaft den Saal betritt, erhebt sich der Herzog zu Allennos, der auf dem Thron am Ende des Saales sitzt und erwartet stehend seine Tochter. Kaum merkt man ihm sein Gebrechen an an diesem Tag, vielleicht, weil ihm die Oberste Heilerin ein Schmerzmittel verabreicht hatte, damit er die Zeremonie übersteht. Vielleicht hält ihn aber auch sein eiserner Wille aufrecht. In jedem Fall tritt er – ein letztes Mal – mit der ganzen Würde seines Amtes auf. Weiß-Grün und mit Gold umsäumt ist seine Kleidung, wie die seiner Tochter. Auf seiner Stirn glänzt der Silberne Reif, an seinem Gürtel hängt das Schwert der Ehre, und an seinem Finger prangt der Siegelring von Allennos – die Insignien der Herrschaft des Herzogs zu Allennos.

Als seine Tochter den Fuß des Thrones erreicht hat, kniet sie vor ihrem Vater nieder, und dieser beginnt zu sprechen: „Der heutige Tag ist ein Tag der Freude, hoffnungsvoller als je zuvor in meinem Leben. Nicht nur wird Tektoloi bald wieder einen gekrönten Kaiser haben – überdies wird mir die Gnade gewährt, nicht durch den Tod gezwungen zu werden, meine Krone niederzulegen, sondern aus freien Stücken diese einem fähigen und würdigen Nachfolger aufs Haupt setzen zu können. Dieser Tag verweist auf eine hoffnungsvolle Zukunft eines neuen, wiedererstarkten Tektoloi.“ So gewaltig ist Deirvis D'Alephs Stimme in dem Augenblick, in dem er spricht, daß man an die Tage erinnert wird, in denen er nicht ein kranker, gebrechlicher Mann sondern ein mächtiger Herrscher war:

„Erhabene Majestät, meine Mitfürsten, Bürger von Allennos und Tektoloi! Vor den Göttern Tektolois lege ich an diesem Tag meine Krone nieder, auf daß sie meiner Tochter Andreana, meiner rechtmäßigen Erbin nach den Gesetzen von Allennos und Tektoloi, übergeben werde! Von der Stunde an, zu der sie den kaiserlichen Ritterschlag erhalten hat, gebe ich sämtliche Ansprüche auf die Herrschaft über Allennos – mit sämtlichen Rechten und Pflichten – auf.“

Lara Omkros, die sich neben ihn gestellt hat, spricht: „Deirvis D'Aleph, ich, die ich die Schwesternschaft der Rhyalianda vertrete, die über die Einhaltung der Gesetze und Traditionen Tektolois wacht, habe Euren Schwur vernommen, und so hört, daß Ihr von der Stunde an, zu der Eure rechtmäßige Erbin, Andreana D'Aleph, den kaiserlichen Ritterschlag erhalten hat, der Pflichten Eures Amtes befreit seid. Ich fordere Euch nun auf, die Insignien von Allennos abzulegen.“

 Bei diesen Worten zieht Deirvis D'Aleph den silbernen Reif von seiner Stirn und übergibt ihn Lara Omkros. Dann zieht er den Ring von seinem Finger und spricht: „Andreana, Tochter aus Hause D'Aleph, drei Schwüre müßt Ihr ablegen, um Euer Erbe und Eure Pflicht aufzunehmen. Der erste Schwur gilt Allennos, Eurem Herzogtum.“

Deirvis D'Aleph hält kurz inne, bevor er weiterspricht. „So frage ich Euch nun: Seid Ihr bereit, stets den Blick auf das Wohl Eures Volkes zu lenken? Seid Ihr bereit, Gerechtigkeit zu suchen und zu verteidigen? Seid Ihr bereit, Größe und Güte walten zu lassen, wo dies Anstand und Ehre gebieten? Ist dies der Fall, so hebt Eure Hand und sprecht: Ich schwöre dies bei den Göttern und bei meiner Ehre.“

Andreana D'Aleph hebt ihre Hand und spricht mit klarer Stimme: „Ich schwöre dies bei den Göttern und meiner Ehre.“

Mit den Worten: „So übergebe ich Euch das Siegel von Allennos, das Erbe Eurer Familie, auf daß Euer Schwur nie vergessen werde“, steckt der Vater den Ring an den Finger seiner Tochter. Dann zieht sein Schwert aus seiner Scheide und liegt es in die ausgebreiteten Hände seiner knieenden Tochter: „Den Schwur an Euer Volk habt Ihr geleistet. Doch ebenso, wie Ihr Euch an das Volk gebunden habt, müßt Ihr Euch an die Krone und an die Götter binden. So nehmt nun das Schwert der Ehre, das Erbe der Herzöge zu Allennos, und reist in die Hauptstadt, um vom Kaiser den kaiserlichen Ritterschlag zu empfangen.“

 

Als sich Andreana erhebt und zeremoniell vor ihrem Vater verneigt, fügt dieser sanft hinzu:„Meine Tochter, mein Segen liegt auf dir. Mache deinem Haus alle Ehre! Gehe in Frieden und mit den Göttern.“ Dann tritt er zurück, und während Andreana D'Aleph sich umdreht und aus dem Saal schreitet, scheint ihn von einem Moment auf den nächsten die Kraft, die ihn über seine Abschiedsrede hinweg gehalten hat, zu verlassen. Er taumelt, und nur der stützende Arm eines Ritters der Garde bewahrt ihn vor dem Sturz. Doch in der Aufregung um den Abzug Andreana D'Alephs im Geleit ihrer Garde nach Mitrania bleibt der Rückzug des völlig erschöpften Deirvis D'Alephs in seine privaten Gemächer fast unbemerkt.