MYRA

 Erainn-Fest

Das Erainn-Fest

Wie sehr die Menschen in Allennos die Morde im letzten Jahr bedrücken, wird am 23. Adar, dem Tag, an dem der Toten des vergangenen Jahres gedacht wird, deutlich: Im Morgengrauen ziehen die Erainn-Priester in ihren langen weißen Roben mit hellen Fackeln durch die Stadt, die unter ihren Trauergesängen verstummt. Damit wird sogleich das Erainn-Fest eingeläutet. In der Burg versammeln sich sämtliche Bewohner in der Großen Halle, als man durch die Gesänge der Priester erwacht, und Frygor Farawein, der Erainn-Priester der Burg, verließt die für den heutigen Tag bestimmten Zeilen aus dem allumfassenden Naabur. Schließlich beendet er die Morgenandacht mit den Worten: "... So sei der 23. Adar der erste Tag von sieben, die Erainn, dem Gott des Lichts gehören sollen. Der 23. Adar sei der Tag, an dem Ihr die Toten ziehen laßt, damit sie Eure Geister nicht verfolgen." Schweigend setzten sich die Anwesenden. Die Priester des Erainn und die Priesterinnen der Rhyalianda bringen Krüge mit Wasser und Körbe mit trockenem Brot das einzige, was die Gläubigen an diesem Tag zu sich nehmen. Auch mehrere Kisten Kerzen stellen sie vor die Tür. Farawein setzt stumm den ersten Laib und den ersten Krug vor Mâth D'Rabenor, einen jungen Pagen, der am Anfang eines Tisches sitzt. Mâth ergreift das Brot, bricht ein Stück ab, und beginnt das Ritual der Trauer: "Ich gedenke meiner Schwester Gwara, die im Frühjahr im Kindbett starb. Sie starb, um ihr Kind zu retten, und dies zeugt von ihrer Größe. Sie bedeutete viel für mich, denn sie zog mich auf, weil meine Mutter früh starb." Er kaut langsam das Brot, trinkt einen Schluck Wasser, und gibt Brot und Krug weiter. Nicht viele behalten das Brot, denn nicht viele kannten Gwara. Doch jeder, der Gwara D'Rabenor gekannt hatte, sagt etwas über die Tote, bevor auch er etwas Brot ißt und einen Schluck Wasser trinkt: Was er an ihr gemocht hat, was er nicht gemocht hat aber zu verzeihen gelobt, was er ihr immer hatte sagen wollen, aber vor ihrem Tod nicht gekonnt hatte. Nachdem Brot und Krug einmal die Rundeemacht haben und wieder bei Mâth ankommen, erhebt sich Mâth, zündet eine der Kerzen an einer Fackel an, trägt sie vors Tor und klebte sie dort auf den Boden der Straße. Dann kehrt er zurück, und das Ritual beginnt von vorne: Die Menschen trauern um gestorbene Verwandte, Geliebte, Waffengefährten. Doch auch um jedes einzelne Mitglied der Familie Semros, das in Allennos bekannt war, wird getrauert, und um Chirnes Nizneros. Über die Familie Semros wissen die Menschen nur Gutes zu berichten. Man sah den Grafen als friedlichen Menschen, und auch seinen Sohn Milakon mochten die, die ihn kannten. Die Trauer um die Grafenfamilie ist echt, und einige Burgbewohner flüstern den titanesischen Gesandten zu, damit die garianischen Gesandten es nicht hören können, daß sie glauben, daß die Familie im Auftrag des Herzogs von Garian ermordet wurde. Als um den verstorbenen Kaiser getrauert wird, kochen die Gefühle hoch. Es ist der Oberste Richter von Allennos, der diese Trauer ausspricht: "Ich trauere um Chirnes Nizneros...&quSo leise und traurig die Zeremonie bis jetzt verlaufen ist, werden doch einige Menschen jetzt unruhig. Ein wütendes Zischen geht durch den Raum, woraufhin der Oberste Richter ruhig aber bestimmt hinzufügt: "Ja, ich trauere um ihn. Er war ein zwiespältiger Mensch, und er hat viel gemacht, was ich nicht billigen kann. Doch er war der einzige, dem es gelang, Tektoloi endlich Frieden zu bringen." Es ist so still im Raum, daß man ein Taschentuch hätte fallen hören. Ruhig ißt der Oberste Richter sein Brot, trinkt, und reicht Brot und Krug weiter. Später erzählt eine Hofdame den Fremden, daß es Tradition hat, daß der Oberste Richter um einer Person trauert, die bei den Zeremonie-Teilnehmern zwiespältige Gefühle auslöst. Und auch dieses Jahr haben seine Worte eine Lawine ausgelöst, denn die meisten hatten Kaiser zumindest einmal gesehen, und so hat jeder der Anwesenden etwas zu sagen. Während Brot und Wasser langsam weitergereicht werden, lösen sich nach und nach die über Monate angestaute Verzweiflung, langjährigeraß und ohnmächtige Wut und vermischen sich mit Bewunderung und Ehrfurcht. Als nach langer, langer Zeit der Oberste Richter die Kerze für den Kaiser vor das Tor der Burg trägt, findet er draußen auf der Straße ein Meer von flackernden Lichtern vor. Drinnen haben die Allennosen Chirnes Nizneros endlich als das ziehen lassen, was er war: Kaiser und Mensch zugleich.

 Nach diesem emotionsgeladenen Tag beginnt endlich das Große Erainn-Fest, das den ganzen restlichen Adar gefeiert wird. Und zunächst herrscht auch Jubelstimmung. Die Menschen haben allen Grund zu feiern, denn im Augenblick wird eine Nichte des Herzogs in Miktonos verheiratet, ein Zeichen der Hoffnung auf die Dauerhaftigkeit des langersehnten Friedens. Zudem scheint es, daß die Menschen dieses Jahr umso ausgelassener feiern, um die Schatten, die im vergangenen Jahr über Tektoloi lagen, abzuschütteln.

Doch dann erreicht die Nachricht von den Kämpfen in Burg Teligos und Mitrania Allennos, und die Stimmung schlägt um. Der Rat des Herzogs beschließt, die Ereignisse als Unfall zu sehen, an dem keine der Seiten Schuld hat, sollte der Rat nicht eines Besseren belehrt werden. Dennoch hat der Kommandant der Stadtwache alle Mühe, die Bevölkerung zu beruhigen. Immer wieder hört man böse Worte gegen Garian. Am 25. Adar wird ein garianischer Händler fast zu Tode geprügelt. Die Stadtwache kann gerade noch rechtzeitig eingreifen. Am 27. Adar deckt die Stadtwache einen Mordkomplott gegen die garianische Gesandtschaft auf. Der einzige Grund, warum sie nicht sofort gehängt werden, ist, daß man nicht den Frieden des Erainn-Festes stören will. Doch der Kommandant der Stadtwache macht klar, daß weitere derartige Vorfälle als Kapitalverbechen gewertet werden. Danach hört man zwar keine offenen Hetzereien gegen Garian mehr, doch die Stimmung ist immer noch angespannt. Ein Schatten hängt von nun an über dem Erainn-Fest, deutet ch alles auf einen neuen Bürgerkrieg hin.