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Der Wilde Ophis
Die heutige Ausgabe des wilden Ophis wird im wesentlichen durch einen Brief meines alten Freundes und Vertrauten Thûlan Zerobial gestaltet. Dieser erfahrene Forscher, Meister der Natur an der
Akademie von Miktonos, ist das Wagnis eingegangen, in den Dschungel des fernen Ophis zu reisen, um den merkwürdigen Gerüchten über einen Tempel nachzugehen, welche möglicherweise Generian geweiht
werden solle. Das Ziel seiner Reise hat er erreicht, doch mußte er feststellen, daß er mehr gefunden hatte, als er wünschte - oder fürchtete?
Geschrieben im Dienste Pollathans, am 15. Tage des Nisan, 419 n. P., zur Festung Allennos Adain Ivenor, Priester des Pollathan
Saluton, Adain!
Wie ich Euch ankündigte, bin ich den merkwürdigen Gerüchten nachgegangen, die von einem Tempelbau im Ophis berichteten. Ich habe die beschwerliche Reise in den Dschungel auf mich genommen, und
mußte zu meiner Überraschung feststellen, daß ich nicht der einzige war. Mehrmals traf ich auf Allennosen, die mit dem gleichen Ziel unterwegs waren. Zwar wurden wir wiederholt von riesigen
Krötenmenschen angehalten und durchsucht, jedoch, wenn wir unser Reiseziel nannten, ohne Umstände zur Weiterreise durchgelassen. Eine merkwürdige Spannung erfüllte mich. Was würde uns erwarten?
Sollte wirklich eine Wandernde Braut in der Krötenmission erfolgreich gewesen sein? Sollte endlich dem Herrn der Fruchtbarkeit ein neuer Hain geweiht werden? Oder war es alles nur ein Trick, um
neue Opfer für die widerlichen Schleimgotttempel anzulocken?
Ich kam am Tag vor dem Saatfest an, und ich war beeindruckt, wie viele Wesen sich auf der großen Dschungellichtung versammelt hatten. Es gab Menschen unterschiedlichsten Aussehens, manche von
ihnen ähnelten mehr Tieren als ihren Mitmenschen, es gab Fellwesen, die mir bis zum Bauchnabel gingen, breitschultrige, affenartige Kreaturen in sackartigen Kutten, riesige Katzen, die aufrecht
auf zwei Beinen liefen, und denen unterarmlange Kobolde auf den Schultern saßen, und noch viele mehr, die zu seltsam waren, als daß sie sich einer leichten Beschreibung erschlössen. Dazwischen
natürlich, und insgesamt deutlich in der Mehrheit, Krötenmenschen. Riesige, warzige, schleimige Krötenmenschen. Auch diese sollten Generians Kinder sein? Der Gedanke war schwer zu ertragen.
Im Morgengrauen erhoben wir uns, kleideten uns in unsere Festtagsgewänder und zogen zum Herz der Lichtung, dem neu geschaffenen Schrein des Gottes. Es war schon eine riesige Menge von bizarr
ausstaffierten Wesen vor der übermannshohen Hecke, die den Schrein vor zudringlichen Blicken verbarg, versammelt. Ich schluckte, als ich die Hecke sah: Eine wilde, scheinbar natürliche Wucherung
von Farben und Formen, die sowohl anziehend als auch bedrohlich wirkte. Riesige Blumenkelche in schillernden Farben öffneten und schlossen sich in scheinbar zufälligem Rhythmus, dabei mit
klebrigen Tentakeln nach Insekten und kleinen Vögeln schnappend; fingerlange Dornen ragten bedrohlich empor, aus deren Spitzen zähflüssige Tropfen einer schwarzen Substanz drangen, die
gelegentlich zu Boden fielen um dort zischend zu verdampfen, tiefe Löcher hinterlassend. Überall raschelte und huschte es in dieser Hecke, kreischte es schrill und schmatzte es gierig.
Vor der Hecke hatte sich eine Schar von Krötenmenschen versammelt, die, mit Blumen, Blättern und bunten Tüchern geschmückt, unter wilden Sprüngen und Verrenkungen eine bizarre Ansammlung von
Lärminstrumenten betätigte. Das quäkende Kreischen von Nasenflöten erhob sich über dumpfe Trommelwirbel, die aus Kesselpauken vom Umfang eines kleinen Hauses drangen, die langgezogenen Töne der
Maulklampfen wurden von Fesselschellen untermalt - ein Höllenlärm! Und inmitten dieses tönenden Getümmels kniete ruhig eine kleine Menschenfrau in weißen Gewändern, und neben ihr die drei
häßlichsten Krötinnen, die ich je in meinem Leben gesehen habe.
„Das ist Schwester Schwarzpappel, die Wandernde Braut“, flüsterte mir mein Nebenmann zu. „Und neben ihr, das sind die drei Kandidatinnen für die Weihe.“
Ich sah mir die drei Krötinnen näher an. Niedrige, kinnlose Schädel mit großen Glubschaugen, die ausdruckslos vor sich hinstarrten. Breite, schmallippige Mäuler zerteilten den ohrenlosen Kopf
unter den Nasenschlitzen in zwei ungleiche Hälften. Gelegentlich blitzten Raubtierzähne. Halslos ging der zu große Kopf in den zu klein geratenen, fast kugelförmigen Rumpf über, an dem überlange
Arme baumelten. Krumme Storchenbeine hielten die Kreaturen aufrecht. Faltige Haut hing in schlaffen Runzeln herab. Warzen in schillernden Farben bedeckten alle Körperteile. Eigentlich
unterschieden sie sich von den umgebenden Kröten nur dadurch, daß ihre Kleidung allein aus Blumenkränzen bestand. Grotesk!
Die Sonne ging auf, und in diesem Augenblick erhoben sich die vier Frauen und wandten sich der wartenden Menge zu. Schwester Schwarzpappel ergriff das Wort.
„Wesen von Erendyra! Ihr alle wißt, wie schwer die letzten Jahre waren. Unsägliches Leid hat die Bewohnerinnen und Bewohner des Dschungels getroffen. Stürme, Not, Bruderkriege und Fanatiker haben
diesen Landstrich verheert, Tausende vertrieben und getötet. Dunkel und karg war diese Zeit! Doch wir haben uns hier zusammengefunden, um ein Zeichen zu setzen gegen Dürre und Not, gegen Zwist
und Vernichtung. Es ist ein Schrein hier errichtet worden, der erinnern soll an diese düsteren Jahre, an die, welche ihr Leben gelassen haben in diesen schrecklichen Zeiten. Aber er soll auch ein
Zeichen der Hoffnung sein! Fruchtbar und zukunftsfreudig soll die Weihe des heutigen Tages sein. Deshalb wird heute nicht nur der Schrein geweiht, sondern auch die drei, die neben mir stehen. Sie
sollen dem Land und dem Gott von nun an mit ganzem Herzen dienen und gehören.“ Schwester Schwarzpappel wandte sich an die drei neben ihr stehenden Krötinnen. „Shhkene! Kur-Kela! Qquoqua! Wollt
ihr euch an diesem Tage von allem, was, ihr bisher gewesen seid, von euren Namen, von euren Dorfgemeinschaften, von euren Wünschen und von euren Zielen lossagen? Wollt ihr bis an das Ende eures
Lebens und bis in alle Ewigkeit danach dem Land und ihm, der es fruchtbar macht, euch verpflichten und über alles stellen, was euch bewegt? Wollt ihr eins werden mit der Fülle und Fruchtbarkeit
des Landes, dem immer neuen Entstehen und Vergehen des Dschungels, der brütenden Wärme der Sümpfe, damit jeder Schmerz, der ihm zugefügt wird, euch zugefügt wird? Wollt ihr dies, so sprecht: ‘Ja,
ich will.’“
Ein kurzes, feierliches Quaken ertönte von den drei Krötinnen. Schwester Schwarzpappel segnete die drei und erklärte dann feierlich:
„Ich spreche euch im Namen des Einen und aller Götter frei von allem, was ihr bisher gewesen seid, von euren Namen, von euren Dorfgemeinschaften, von euren Wünschen und von euren Zielen. Ihr sollt
von diesem Tage an bis an das Ende eures Lebens und bis in alle Ewigkeit danach dem Land und ihm, der es fruchtbar macht, euch verpflichten und über alles stellen, was euch bewegt. Ihr sollt eins
werden mit der Fülle und Fruchtbarkeit des Landes, dem immer neuen Entstehen und Vergehen des Dschungels, der brütenden Wärme der Sümpfe, damit jeder Schmerz, der ihm zugefügt wird, euch zugefügt
wird. Ihr sollt von diesem Tag an heißen: Schwester Moorflechte, Schwester Düsterfarn, und Schwester Grüner Hutkrempling.“
Ein hoffnungsvolles Raunen ging durch die Menge, als man die Namen vernahm, die für sie gewählt worden waren. Man sagt ja bekanntlich, der Gott selbst flüstere bei der Weihe den Priesterinnen die
neuen Namen der Novizinnen ein, und dieser Name soll das wahre Wesen und die Bedeutung der Priesterinnen für Myra widerspiegeln.
Die drei Krötinnen erhoben sich und folgten Schwester Schwarzpappel, die gemessenen Schrittes auf die Hecke zuschritt. Wie von Zauberhand öffnete sich eine Lücke in dem lebenden Wall, die drei
Wagen nebeneinander hätte passieren lassen können. Ehrfurchtsvoll drängte die Menge hinterher. Den neugierigen Augen bot sich ein beeindruckender Anblick. Inmitten eines bunten Getümmels wild
durcheinander wachsender Pflanzen erhob sich ein mächtiger Baum. Es war einer der Riesen des Dschungels, ein Uzzirolemtorkal. Und in das lebende Holz hinein und aus ihm heraus war der Tempel
geformt. Wie Luftwurzeln schwangen sich Treppen empor, und hohe Fenster strebten zum laubigen Dach, bedeckt von schillernden, atmenden Membranen. Kunstvolle Figuren und Bilder waren aus der Rinde
des Baumes geformt, denen man ansah, das kein Messer sie berührt hatte.
Durch ein Tor aus Blumen schritten die vier Bräute, und ein Vorhang von Schlingpflanzen schloß sich hinter ihnen.
„Jetzt gehen sie in die Haupthalle des Tempels, das Heilige Saatgut holen,“ informierte mich mein besserwisserischer Nebenmann. „Dort steht auch die Urne der Stundenblume, die an die Toten des
Krieges erinnern soll.“
Ich hörte nur halb zu, weil in diesem Moment die vier Priesterinnen wieder hervorkamen. In die Totenstille, die sie begrüßte, sprachen sie wie mit einer Stimme, die auf eine seltsame Weise nach
mehr klang als nur nach der Summe ihrer Teile:
„Das neue Jahr beginnt und mit ihm der Frühling. Fruchtbarkeit, Blüte und Reichtum dem Land und allem, was in ihm wohnt!“
Mit einer Handbewegung warfen die vier etwas in die Luft, einen glitzernden Staub, der sich in vier Fontänen formierte, die umeinander zu kreisen begannen, ein Wirbelsturm flirrender Farben, immer
schneller, immer heller bis die vier glitzernden Spiralen in einem großen Zyklon zusammen zu fließen schienen - und dieser plötzlich mit einem glockenhellen Klang zerbarst und in alle
Himmelsrichtungen zerstob.
Es folgte ein Moment der Stille. Und dann hob ein Lärm an, schlimmer als zuvor, alle Musiker versuchten sich gleichzeitig an Lautstärke zu überbieten, von allen Seiten strömten sie herbei, und die
Menge begann zu schreien, zu singen und zu tanzen. Im wilden Reigen ging es durcheinander, dem sich keiner entziehen konnte. Mit Tränen in den Augen umarmten die unterschiedlichen Wesen einander
und bejubelten den Beginn des Frühlings. Ich selbst wurde innerhalb weniger Augenblicke von mindestens drei Krötinnen, sowie einem Wesen, dem ich weder Namen noch Form geben kann, mit schleimigen
Küssen bedeckt. Fässer mit berauschenden Getränken wurden herbeigerollt, sowie Wagen mit köstlichen und unbekannten Speisen. Freudenfeuer wurden entzündet und merkwürdige Kräuter hineingeworfen,
die sofort dichte Rauchschwaden über die feiernde Menge legten. Vielleicht lag es an diesen Kräutern, aber meine weitere Erinnerung ist schemenhaft, flüchtig. Farben, Klänge, Gerüche blitzen
immer wieder vor meinem geistigen Auge auf, doch kann ich sie nicht zu kohärenten Bildern vereinigen. Meine nächste klare Erinnerung ist, daß der kühle Morgentau auf meiner bloßen Haut mich
weckt, und ich erwache, eng umschlungen von zwei riesigen Krötinnen und mit brüllenden Kopfschmerzen.
Werter Adain, ich bedauerte von Herzen, daß mir die analytische Klarheit im Verlaufe dieses wichtigen Tages und der folgenden Nacht verlustig gegangen ist, andererseits bin ich fast froh, daß ich
mich nicht erinnere, was genau in dieser Zeit mit mir geschehen ist. Das Erlebnis, welches ich Euch beschrieb, war sicherlich eine beglückende und erhebende Erfahrung für jeden Gläubigen, doch
denke ich, daß ich mein nächstes Saatfest lieber wieder in Miktonos feiern möchte.
Es verbleibt mit herzlichen Grüßen, Euer Thûlan Zerobia
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