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Der Kreis ist gebrochen ...
Hoch in den Takelagen stand sie, als das Schiff den Hafen verließ. Der Wind durchwirbelte ihre Haare, und die Sonne brannte auf ihrer Haut. Und vor ihr die weite See. Endlich! Endlich war sie hier
– auf dem Meer, so, wie sie es sich seit Urzeiten gewünscht hatte. Nie hätte sie gedacht, daß die Soldaten sie mitnehmen würden. Und dann, als sie das Schiff zum ersten Mal betreten hatte –
Worte, die sie noch nie zuvor gehört hatte, wie „Backbord“ und „Takelagen“ formten sich in ihrem Geist, als sie das Schiff erkundete. Sie war selbst überrascht darüber, daß sie wußte, wie alles
funktionierte, was sie zu tun hatte. Ohne daß ihr jemand zeigen mußte, konnte sie Taue knoten, die Segel hissen und den Anker niederlassen. Sie wußte genau, welcher Tag der günstigste für die
Abfahrt war, weil sie es im Wind roch. Nachdem sich die miktonesischen Seeleute von ihrer ersten Verblüffung erholt hatten, daß ein Allennose scheinbar etwas von Schiffen verstand anstatt beim
Anblick eines solchen vor Schreck zu erbleichen, hatten sie schnell Verwendung für den neuen Aushilfsschiffjungen gefunden, auch wenn er nur ein Mädchen war. Und nun – endlich, endlich, war sie
auf dem Meer! Sie konnte es noch immer kaum fassen!
Während sie so ihre Gedanken dahinströmten, fing ein dunkel glänzender Körper, der aus dem Wasser sprang, ihr Auge: Delphine! Atemlos zählte sie ihre Begleiter – es waren einundzwanzig an der
Zahl. ‘Ihr seid zurückgekommen, um mich zu begleiten’, dachte sie, und so schwang sie sich schnell den Mast hinunter, um sie zu begrüßen. Weit beugte sie sich über die Reling und streckte die
Hände aus – fast verzweifelt war ihre Geste. Es hing so viel davon ab, obwohl sie nicht wußte, warum.
Und dann – sie konnte es kaum fassen – erst einer, dann zwei, dann drei Delphine hoben ihre Körper aus dem Wasser, streckten ihr ihre feuchten Nasen entgegen und rieben sie wie zur Begrüßung an
ihren Händen. Die Laute, die sie von sich gaben, klangen wie Laute der Begrüßung. Und als ob die drei ihre Kameraden gerufen hätten, schwammen auch die anderen Delphine her, um sie zu begrüßen,
bis sich schließlich alle einundzwanzig Delphine an der Stelle drängelten, an der sie stand. Es war ein komisches Bild, wie sie sich aufgeregt gegenseitig wegschubsten wie kleine Kinder, und sie
mußte vor Freude lachen. ‘Ihr erkennt mich!’, jubelten ihre Gedanken, ‘Ihr wißt, wer ich bin, und ihr seid in Eurem Herzen treu geblieben über all die Jahre...’
Plötzlich, unvermittelt verschwamm das Meer vor ihren Augen ... das Bild einer Wüste ... trockener Sand in gleißendem Sonnenlicht, bar jeden Lebens ... menschenverachtend – kein Tropfen Wasser,
keine Pfütze, kein Grashalm oder Baum, soweit der Horizont reichte, und noch weiter ... und auf einmal, erinnerte sie sich an all das, was geschehen war, an den Neid und an den Verrat an Ihm – erst durch die Götter und dann durch die Menschen. Und sie wußte auch wieder, wer sie war und was sie suchte und ... wohin sie mußte. Ihr Blick wandte sich gen Phialae.
Sie drehte sich um zu den Soldaten und Seeleuten, die sich verblüfft genähert hatten, um das erstaunliche Schauspiel zu beobachten. „Wir müssen den Kurs wechseln“, meinte sie zum Kapitän. „Wer bis
du überhaupt, Kindchen, um uns Befehle zu erteilen?“ fuhr Salandrina D’Atroth dazwischen. Doch dann verstummte der General der 2. Allennat, als sie in die Augen des Mädchens blickte und erkannte,
wer sie war. „Verzeiht“, flüsterte sie, neigte ihren Kopf und fragte nur noch: „Wohin?“
„Nach Phialae.“ Jârus Brakar schnappte nur noch nach Luft, als auch er begriff. „Aber der Segmentsrand...“, war sein letzter Einwand. „Das“, meinte das Mädchen, „laßt meine Sorge sein.“
Und während das Mädchen, das sich Rhyalidd nannte, die Arme hob und das uralte Lied des Meeres anstimmte, senkte ein Besatzungsmitglied nach dem anderen den Kopf und ging nieder auf die Knie, als
auch sie begriffen. Die Delphine tanzten auf den Wellen, und alle, die das Meer liebten oder fürchteten, hörten den freudigen Ruf: Der Kreis war gebrochen ...
(Dratowen, Marschäschwan 418 n.P.)
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