MYRA

 Der_Kreis_beginnt

Der Kreis beginnt

Ylyana schreckte aus dem Schlaf aus. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, und ihr war kalt und heiß zugleich. In ihrem Traum – die Hitze ... schmorendes Fleisch ... der Schrei ... die Wut ... die Verzweiflung ... und die Hitze, die unsägliche Hitze. Es war alles so real gewesen – zu real. Und sie war sich sicher, daß etwas Furchtbares passiert war. Nur was? Es war wichtig gewesen, überlebenswichtig, dessen wurde sie sich von Sekunde zu Sekunde sicherer, denn die düstere Schwärze der Vorahnung ergriff immer mehr von ihr Besitz. Wenn sie sich nur erinnern könnte ... Mit ihrem Geist faßte sie tiefer in ihre Erinnerung ...

"Ist etwas passiert, Herrin?" Ylyanas Konzentration brach schlagartig zusammen, als die junge Novizin ihren Arm berührte. Sie konnte nur mit Mühe einen Fluch zurückhalten. Daß diese jungen Dilettantinnen sich nie merken konnten, daß man eine Priesterin in Trance nie berühren durfte, und schon gar nicht die Stimme der See! Nun war es zu spät die Erinnerung an den Traum war verloren, und sie mußte warten, bis andere Zeichen ihr die Lösung des Rätsels ermöglichten.

* * *

Wie jeden Sonnenaufgang schaukelten die Prozessionsboote langsam durch die Kanäle, und die Priesterinnen und Priester standen in weiten Gewändern, die sich im Wind so sanft kräuselten wie die Wellen der See und die in den tausend Farben des Meeres gefärbt waren, so aufrecht wie es nur die können, die auf dem Meer geboren worden waren. Die Delphine umtanzten freudig die Boote, und wie jeden Morgen stand im ersten Boot die Stimme der See, unnahbar, stolz und so schön, wie nur sie es sein konnte. Freude und Jubel lag in ihren Augen, als sich der Himmel und die Wolken, denen sie ihr Gesicht entgegenstreckte, in ihnen widerspiegelten.

Während die Schiffe langsam die Stadt verließen und auf das offene Meer zuschwammen, stimmte sie wie jeden Morgen mit ihrer Stimme, die nicht greifbar war, weil sie zugleich weich und rauh war, weil sich in ihr die Tausend Stimmen des Meeres wiederzufinden schienen, das uralte Lied des Meeres an. Und wie jeden Morgen fielen die Priester, einer nach dem anderen, in den Gesang ein, bis er so gewaltig war, daß kein Zuhörer mehr an der Schönheit des neuen Tag und der Großartigkeit des Herrn der Wellen zweifeln konnte.

Und wie jeden Morgen machte sich die Prozession nach ihren Morgengesängen auf den Rückweg. Dochdie Stimme der See runzelte die Stirn, denn sie sah Zeichen des Sturms in den Wolken am Himmel ...

* * *

Noch mehr runzelte Ylyana die Stirn, als sie bei ihrer Rückkehr am Landesteg den Fürsten mit den Fremden sah, die am Vorabend im Hafen angelegt hatten und von denen man sagte, sie seien mehr als einfache Händler. "Wer wagt es, die Morgengebete zu stören?" fragte sie mit kaum verhohlenen Zorn in der Stimme noch nie hatte es ein Bürger von Mannaris gewagt, die Rituale der Priester zu stören!

Einer der Fremden lachte höhnisch: "Morgengebete für welchen Gott?" Ylyana wurde in ihrem Zorn um zwei Fuß größer: "Wie könnt Ihr es wagen? Mann'An'Auns Zorn wird Euch treffen, und Eure Schiffe werden im Sturm versinken!"

Erneut war die Häme im Gesicht des Fremden nicht zu übersehen: "Was nützt Euch der Zorn eines machtlosen Gottes?" Und bevor Ylyana ihm eine wütende Entgegnung entgegenschleudern konnte, machte er eine abwehrende Geste und meinte etwas höflicher: "Laßt mich uns Euch zuerst vorstellen. Ich bin Pandayrion, Hohepriester Chnums, und dies sind meine Gefährten Artays und Mandramis. Auch sie sind Priester des Chnums. Der Grund, der uns hierher nach Mannaris führte, ist, daß wir vernahmen, daß Euer Volk hier noch scheinbar nichts von den Ereignissen weiß, die auf einem anderen Kontinent Myras stattfanden und die doch die ganze Welt erschütterten ..."

"Denn wisset", und mit diesen Worten erhob er sich und sprach mit einer Macht, daß es weithin zu hören war, "Mann'An'Aun, dem Herrn der Wellen, wurde endlich seine gerechte Strafe für seine Überheblichkeit, seinen Betrug an Chnum und seine Auflehnung gegen die anderen Göttern erteilt. Aus ihrem Kreis wurde er verstoßen und in die Verbannung geschickt, auf daß er nie wieder Schaden über die Götter bringen kann. Von jenem Tag an ist ein anderer Herr über die Wellen, denn die Macht Mann'An'Auns ist gebrochen!"

Die Umstehenden Menschen und selbst die Priester Mann'An'Auns erschauerten, denn sie spürten die Wahrheit in Pandayrions Worten. Einzig die Stimme der See stand kühl und reglos da, als hätten sie diese Worte nicht im geringsten berührt. "Und?" fragte sie, "was wollt Ihr hier?"

Erneut hob Pandayrion die Stimme: "Wir sind gekommen, um den Namen Mann'An'Auns aus den Annalen zu tilgen, ihm seine Tempel zu nehmen und dem Erben der Wellen zu geben ..." Er hielt inne, als er den Zorn in den Augen der Stimme sah, denn er erkannte, daß ihre Macht ungebrochen war.

"Niemals!" Ihre Stimme war wie das Brausen des Meeres. "Da, wo Ihr herkommt, mag es einen Zwist zwischen Euren Göttern gegeben haben, doch in Mannaris leben die Menschen mit den Göttern in Frieden, und noch nie hat es ein Mensch gewagt, einem Prinzip Ænes seine Berechtigung abzusprechen oder es über ein anderes zu stellen." Sie lachte, als sie meinte: "Wenn Ihr den Tempel Mann'An'Auns umweihen wollt, so versucht es doch!" Und mit diesen Worten verließ sie den Steg.

* * *

Nichts konnte den Mob aufhalten, weder Tür noch Mensch mit blinder Wut stürmte er durch die Stadt, riß die Tore der Tempelhalle nieder und schwemmte in das Allerheiligste. Überall in der Stadt brannte es bereits. "Da ist sie, die Hexe!" erschollen die Rufe, und der Mob forderte: "Verbrennt sie, verbrennt sie!"

Auf der höchsten Stufe des Tempels, direkt vor dem Altar, stand die, die gemeint war: Ylyana,die Stimme der See. Ruhig und stolz war ihre Haltung, und noch nie war sie so schön gewesen wie in diesem Augenblick. Ungewöhnlich groß war sie für eine Orherar, ein Kind des Lichts, und ihr Körper wirkte trotz ihres Alters manche sagten, sie zähle schon über fünf Menschenalter so biegsam wie ein junger Grashalm, der immer wieder vom Wind gebeugt wird und sich doch immer wieder aufrichtet, um ihm trotzig ins Gesicht zu lachen. Ihre Füße berührten den kalten Boden des Tempels mit der Leichtigkeit eines Blattes, das im Sturm tanzt. Das Feuer warf einen rötlichen, fast unwirklichen Schimmer auf ihre silbrige Haut und überzog ihre Haare, die so hell und weich waren wie die Gischt und der Schaum auf den Wellen des Meeres, mit derselben Farbe. Sie kräuselten sich in der Luft, als ob sie tanzten. Ausdruckslos war ihre Gesicht, und keine Emotion regte sich in ihren tiefen Augen, die die Unendlichkeit gesehen zu haben schienen. Hinter ihr drängten sich die letzten Priester die einzigen, die noch nicht tot oder geflohen waren.

"So seid Ihr gekommen, meine Kinder", flüsterte sie, und der Wind trug ihre Stimme bis in den letzten Winkel der Halle. "Gekommen, um für einen fremden Gott, der nicht der Eure ist, Euren Glauben und das Meer zu verraten. Wohin wollt Ihr gehen, wenn Ihr Mannaris niedergebrannt habt? Wer soll Euch vor den Gefahren der See beschützen? Und welchen der Götter werdet Ihr als nächstes verraten?" Sie lachte, denn in ihren Worten lag Wahrheit, und die Wahrheit ernüchterte die Menschen so plötzlich wie das eiskalte Wasser der machairischen Meere. Sie senkten ihre Arme, und die Wut wich der Ratlosigkeit.

Pandayrions erneuten Ruf: "Verbrennt die Hexe!" fand keinen Widerhall, und er schreckte zurück, erkannte er doch, daß Ylyanas Macht ungebrochen war wie ihr Glaube unerschüttert. Erneut hallte Ylyanas Lachen durch den Tempel: "Ja, Pandayrion, allein die Macht Eures Gottes interessiert Euch, doch die Menschen hier haben nicht vergessen, daß man Æne nur als Ganzes verehren kann. Erde und Wasser gehören zusammen wie Tag und Nacht. Wohl könnt Ihr das Wasser von der Erde zu bannen versuchen, doch gelingen wird es Euch nie, denn ohne Wasser kann es kein Leben geben. Und selbst, wenn Ihr glaubt, das Wasser besiegt zu haben es wird wiederkehren. Das Meer ist ewig. Es existierte Äonen, bevor des lebende Wesen gab, und Äonen danach wird es existieren. Und so höret, Pandayrion, Priester Chnums!" ihre Stimme war wie ein Orkan, der über den Ozean peitscht "Wohl könnt Ihr mich töten, doch die Stimme der See ist wie das Meer. Und so schwöre ich, daß ich nicht eher ruhen werde, bevor Mann'An'Aun, der Herr der Wellen, wieder frei ist, um seinen rechtmäßigen Platz unter den Göttern einzunehmen. Und höret, Ihr Götter: Hiermit lege ich Ænes Fluch über all jene, die Mann'An'Aun verleumden möge ewige Verdammnis ihre Seelen heimsuchen!"

Pandayrions gellender Wutschrei durchschnitt den Raum, als er seine Fackel auf die Stimme der See warf, die sich nicht rührte. Totenstill war es im Tempel, als die lodernde Fackel die Stimme der See traf. Der ganze Tempel stand bereits in Flammen. Stolz und reglos wie sie die Sonne begrüßt hatte, stimmte sie ein letztes Mal das Lied des Meeres an, als nicht nur über ihr sondern auch über Pandayrion, dem Tempelschänder, die brennenden Mauern des Tempels zusammenbrachen.

(Mannaris, ca. 4000 v.P.)